ROOM WITH A VIEW: First Year Departure

Sanft streichelt eiskalter Wind dein Gesicht, während Züge in Richtungen fahren, die du nicht kennst. Es ist die Sonne, die dich trotzdem erwärmt, und der Duft des heißen Kaffeegetränks in deiner Hand; nicht die Temperatur, die ist zu heiß. Ein Vogel versucht zu singen, und du weißt, es ist ein Dezembermorgen; er müsste eigentlich fort sein, längst. Wundervoller melancholischer Rock. Die Überraschung des Jahres.

Sanft streichelt eiskalter Wind dein Gesicht, während Züge in Richtungen fahren, die du nicht kennst. Es ist die Sonne, die dich trotzdem erwärmt, und der Duft des heißen Kaffeegetränks in deiner Hand; nicht die Temperatur, die ist zu heiß. Ein Vogel versucht zu singen, und du weißt, es ist ein Dezembermorgen; er müsste eigentlich fort sein, längst.

Mit Worten Stimmungen zu beschreiben, ist einfach für den, der es beherrscht. Mit Musik ist es unmittelbarer und stimmungsvoller, manchmal, nicht immer. Der Leser mag beurteilen, ob meine Wenigkeit zu ersterer Gruppe gehört, meine Aufgabe ist es zu beurteilen, zu beschreiben, was „First Year Departure“, das Erstlingswerk der Italiener ROOM WITH A VIEW, vermag.

Es vermag viel. Wer KATATONIA kennt und insbesondere deren Werk „Last Fair Deal Gone Down“, und wer es darüber hinaus noch liebt, der wird nachvollziehen können, was ROOM WITH A VIEW bewogen haben mag, dieses Album aufzunehmen, Musik zu machen und Stimungen zu erschaffen. Doch wo KATATONIA nur in melancholischer Rockmusik schwelgen und dabei durchgehend einfache Strukturen verwenden, gehen ROOM WITH A VIEW einen Schritt weiter – genrefremde Instrumente wie die Trompete (herzzerreissend!) oder das Akkordeon verbinden sich mit den typischen intensiven Moll-Akkorden, eine an Felix Flaucher von SILKE BISCHOFF erinnernde Gesangsstimme trägt Weisen vor, nach denen andere lechzen würden, und eingängige Songs mischen sich mit avantgardistischen Einsprengseln zu einer Melange aus Sehnsucht, Wehmut und genau dem Lächeln, das dem Einsamen von den letzten Sonnenstrahlen und einem kleinen, glücklichen Kind geschenkt wird, irgendwo auf der Welt, irgendwie geborgen. Wer hier Pathos wittert, weiß nicht, was Liebe ist, weiß nicht, was Hass oder schlicht Gefühl ausmacht. Wer hier von Kitsch spricht, hat noch nie Weihnachtsbeleuchtung in Spielzeugläden gesehen. ROOM WITH A VIEW sind fern von Pathos und fern von Kitsch, sie sind ehrliches Gefühl. Aber nicht nur das: „ROOM WITH A VIEW sing the ambiguous, autoironic, decadent scenery of unreal nights of a pseudo-cultured and pro-aristocratic new bourgois class“, heißt es im Info von My Kingdom Music, die Szenerie einer Welt also, die “zerbricht wie ein fragiles Champagnerglas”, wie es weiter heißt. Das mag nicht nur pseudo-kulturell, sondern auch –intellektuell anmuten, und es ist sicherlich leicht übertriebenes, vielleicht sogar aufgeblasenes Gerede – und stört doch nicht im Geringsten, da das Werk an sich, auch durch Artwork und Text, eine Atmosphäre verbreitet, die in der Tat genau so beschrieben werden könnte, aber nicht muss; jene noch weitaus ausschweifendere Selbsterklärung könnte auch gedeutet werden als Dekonstruktion der bürgerlichen Gesellschaft, als Verhöhnung des Aufgeblasenen, Pseudokulturellen, und gleichzeitig als Wiederauferstehung einer neuen Bürgerlichkeit fernab dieser Falschheit. ROOM WITH A VIEW „[are] looking for the strength to sneer at fate“, eben, wer ist das nicht.

Wie dem auch sei: jede Kunst besitzt ein unbeschreibbares Moment, und deshalb mag einfach darauf verwiesen werden, dass „First Year Departure“ mit das Schönste ist, was ich dieses Jahr gehört habe, somit die Überraschung des Jahres, denn wer hätte schon damit gerechnet, dass ein kleines Label aus Italien mit einer bis dato völlig unbekannten Band renommierte Künstler in puncto gefühlvolle Rockmusik einfach aussticht? Diese Momente sind es, die uns darin bestätigen, weiter nach denen zu suchen, die noch ehrliche Musik machen. Ein schönes Gefühl.

Der Vogel von vorhin spreizt seine Flügel. Du rauchst deinen letzten braunen Zigarillo und beschließt, in den nächsten Zug einzusteigen. Es ist dein erstes Mal, und du bist nervös. Drinnen siehst du eine Frau mit einem Kind; es hält ein Stück Schokolade in der Hand und ist glücklich. In deinem Sitz bist du geborgen; dir gegenüber sitzt das Kind. Am Fenster zieht die Stadt vorbei, ihre Häuser.

Es wird eine lange Reise.

VÖ: 02.09.2002

Spielzeit: 55:29 Min.

Line-Up:
Francesco Grasso – vocals, guitars

Alessandro Mita – guitars, violin, synthesizer

Fabio Cappabianca – drums

Francesoco Lonetti – bass

Fabio Calcata – trumpet

Alessio Fagrelli – accordion, piano

Produziert von Christian Ice & ROOM WITH A VIEW
Label: My Kingdom Music

Homepage: http://www.clubepoque.cjb.net

Email: blackthornz@yahoo.it

Tracklist:
1. Departures (Litoranea Imaginaire)

2. Single Handed (The Days Of The Trumpet Call)

3. Club Epoque (Febbraio Decade Silente)

4. End Of Season (Sunset Boulevard)

5. Hero (Novecento Aufwiedersehen)

6. Madeleine (Futurismo y Tradicion)

7. Budapest Song (Music from Baltikum Scheherazade)

8. L´enfant Italie (Moderato-Cantabile)

9. Tiergarten (Komrad Kiev)

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner