Irgendwie sind TIAMAT nicht zu beneiden. Mit „Wildhoney“ setzten sie sich selbst ein Denkmal, an dem sie fortan bei jeder neuen Veröffentlichung gemessen werden, ob es ihnen gefällt oder nicht. Als im Vorfeld des „Skeleton Skeletron„-Releases Gerüchte laut wurden, die Band hätte zu der Härte und der Atmosphäre zurückgefunden, die „Wildhoney“ zu einem Meisterwerk gemacht hatten, hatte ich mich schon gefreut wie ein Schneekönig, so gut mir auch „A Deeper Kind Of Slumber“ in seiner ruhigen Intensität gefallen hatte. Wie groß war meine Enttäuschung, als „Skeleton Skeletron“ als halbgare Scheibe ohne roten Faden und größtenteils ohne die typischen TIAMAT-Trademarks daherkam…
Auf „Judas Christ“ ist es sogar die Band selbst, die auf „Wildhoney“ Bezug nimmt. Im Opener „The Return Of The Son Of Nothing“ erklingen diese charakteristischen schleppenden Tomläufe, die unter dem Banner „Whatever That Hurts“ sicher schon mehrere Tausend Durchläufe in meiner Anlage hinter sich haben. Und auch der Rest des Songs besitzt diese eigentümlich mystische Ausstrahlung und die ruhigen Akustikgitarren-Arpeggios, die damals so zahlreich auf dem Meilenstein der Band zu hören waren.
„Judas Christ“ hat einen eigenen Charme
Zum Glück ließ mich das nicht verfrüht falsche Hoffnungen hegen, denn dieses Zitat stellt die einzige Rückblende dar, die auf „Judas Christ“ zu hören ist. Ansonsten stehen rockige Songs wie das SISTERS-lastige „Vote For Love“, experimentelle Instrumentals wie „Sumer By Night“ und ruhige Tracks wie etwa das herausragende „Love Is As Good As Soma“ in trauter Eintracht nebeneinander auf der CD. Anders als auf dem Vorgänger findet man auch wieder einen roten Faden, der sich trotz der Vielseitigkeit zumindest bis „Spine“ durch das Album zieht.
Hat man erst einmal akzeptiert, dass TIAMAT 2002 nicht die gleiche Musik wie vor acht Jahren machen wollen, gewinnt „Judas Christ“ sogar einen enormen Charme, der die Platte zu einem absolut hörenswerten Erlebnis macht. Besonders „Love Is As Good As Soma“ zeigt die Band in alter Stärke und doch nicht als Abklatsch ihres bisherigen Schaffens. Der hypnotische Refrain, das lange PINK FLOYD-Solo am Ende, die wundervollen Harmonien, hier passt einfach alles zusammen!
TIAMAT-Sänger Johan Edlund hat sich zum ausdrucksstarken Sänger gewandelt
Doch auch das flotte, psychedelisch angehauchte „Angel Holograms“, das riffbetonte „So Much For Suicide“ und das von einer warmen Grundstimmung getragene „Fireflower“ wissen zu begeistern, nicht zuletzt dank Johans erneut verbesserten Gesangsleistung. Er, der immer so zurückhaltend wirkt, hat sich mittlerweile vom belächelten Grunzer der Anfangstage zu einem vielseitigen, ausdrucksstarken Sänger gewandelt, der sich den verschiedenen Ausrichtungen der einzelnen Songs hervorragend anpassen kann.
Doch leider trüben einige Aspekte die helle Freude angesichts der wiedererstarkten Schweden. Zwei Schwachpunkte des Albums kann man sogar direkt beim Namen nennen: „Too Far Gone“ und „Heaven Of High“. Das letzte der vier das Album unterteilenden Kapitel besteht aus diesen zwei fast schon an Lagerfeuer und CVJM denken lassenden Kompositionen, die spontanen Charakter haben, doch nicht gerade vor Inspiration bersten. Improvisation mag etwas Tolles sein, Millionen von Blues-Musikern können nicht irren. Doch hier fehlen nicht nur herausragende Melodien, sondern auch die TIAMAT-typische Stimmung. Nachdem die Platte auch ohne die beiden Tracks eine ordentliche Spielzeit aufweist, wäre es vielleicht besser gewesen, wenn nach Lied zehn Schluss gewesen wäre.
Mit „Judas Christ“ finden TIAMAT wieder zurück in die Spur
Ein weiterer Schwachpunkt ist die Produktion: Klar, wer ins PUK-Studio (DEPECHE MODE, GEORGE MICHAEL, JUDAS PRIEST) geht, läuft nicht gerade Gefahr, mit einer Demoproduktion nach dem Mix dazustehen. Doch gerade angesichts des Renommees von PUK hätte ich mehr erwartet. Zu den bisherigen Produktionen seit „Wildhoney“ sind kaum Unterschiede zu hören, der Gitarrensound ist sogar einen Tick verwaschener.
Genug miesgemacht, letztendlich bleibt „Judas Christ“ eine mehr als solide Platte und eine gelungene Wiedergutmachung für „Skeleton Skeletron“. Um an vergangene Glanzzeiten anknüpfen zu können, fehlt es noch an durchgängiger Intensität und der außergewöhnlichen musikalischen Vision, die TIAMAT bereits auf „The Astral Sleep“, „Clouds“, „Wildhoney“ und „A Deeper Kind Of Slumber“ unter Beweis gestellt haben. Doch für eine eindrucksvolle Rückmeldung genügt „Judas Christ“ allemal. Außerdem scheinen viele der darauf enthaltenen Songs mehr auf Liveauftritte zugeschnitten zu sein, was mich mit Vorfreude auf die kommende Tour erfüllt!
Spielzeit: 52:45 Min.
Line-Up:
Johan Edlund – Gesang, Gitarre, Keyboards
Thomas Petterson – Gitarre
Anders Iwers – Bass
Lars Sköld – Schlagzeug
Produziert von Lars Nissen
Label: Century Media
TIAMAT „Judas Christ“ Tracklist
- The Return Of The Son Of Nothing
- So Much For Suicide
- Vote For Love
- The Truth’s For Sale
- Fireflower
- Sumer By Night
- Love Is As Good As Soma
- Angel Holograms
- Spine
- I Am In Love With Myself
- Heaven Of High
- Too Far Gone