Bei jeder anderen Platte hätte das Label für die Äußerung im Beipackzettel, die angepriesene CD stelle einen Höhepunkt absoluter Perfektion dar, von mir den verbalen Knüppel übergezogen bekommen. Denn ist nicht gerade das auf paradoxe Weise Faszinierende an Musik, dass nach dem perfekten Ausdruck von Gefühlen gesucht wird, ohne je hoffen zu dürfen, als unvollkommenes Wesen, das der Mensch nun mal ist, dieses Ziel zu erreichen? Es gibt nur eine bestimmte Anzahl Töne, die man nur zu einer begrenzten Anzahl von Akkorden zusammenstellen kann, welche wiederum nur auf so und so viele Arten aneinandergereiht werden können. Wie soll man mit so einem beschränkten Instrumentarium, so kraftvoll es manchmal aus sein mag, das Perfekte, Allumfassende in seinen unendlichen Ausmaßen auf so etwas Kleinem und Profanem wie einer CD einfangen?
Und wenn es doch gelänge, was wäre das Resultat? Würden alle Musiker aufhören, ihrer Berufung nachzugehen? Würden alle Menschen vor Ehrfurcht erstarren und es nicht wagen, diesem Nonplusultra zu lauschen? Nun, ich wage zu behaupten, dass die Zeit gekommen ist, um all das rauszufinden. Grund hierfür ist ANATHEMAs neues Album „A Fine Day To Exit“, welches fürwahr der Höhepunkt absoluter Perfektion ist, als der es angepriesen wird.
ANATHEMA haben eine lange Entwicklung hinter sich
ANATHEMA haben einen weiten Weg hinter sich. Auf „Crestfallen“ und „Serenades“ noch dem Doom-Death verpflichtet und zu Unrecht als bloße PARADISE LOST-Nachahmer verschrien, zeigten die Engländer auf „Pentecost III“ bereits Mut zu Experimenten im Arrangement und bei den Riffs. Ein Song wie „Mine Is Yours To Drown In“ war damals jedenfalls äußerst ungewöhnlich in der Gothic Metal-/Doom-Death-Szene. Auf „The Silent Enigma“ kam dann nach dem Rauswurf des Sängers Darren erstmals die Stimme von Gitarrist Vincent Cavanagh zum Einsatz, die schon damals trotz härterer Ausrichtung die tiefe Emotionalität späterer Werke erahnen ließ.
Mit „Eternity“ schlugen ANATHEMA dann den Weg in Richtung PINK FLOYD ein, der auch im Jahr 2001 eine feste Richtlinie im Sound der Band ist. Der Song „Far Away“ zählt noch heute für mich zu den romantischsten Liedern, die je geschrieben wurden. Noch experimenteller und eindringlicher ging es auf „Alternative 4“ zu. Auf diesem Album festigte sich die inzwischen für ANATHEMA so typische Stimmung, die sich auch durch das in meinen Ohren leider etwas unfertig wirkende „Judgement“-Album zieht.
„A Fine Day To Exit“ ist der Gipfel der Emotionalität
Nun sind sie also bei „A Fine Day To Exit“ angekommen, das gleich einem riesigen Strudel all jenes, was ANATHEMA auf den vorangegangenen Alben so unverwechselbar gemacht hat, in sich aufsaugt und den Hörer mitreißt auf einen Trip durch alle Niederungen des Lebens, ihn auf Schwingen zum höchsten Glück trägt, nur um mit ihm erneut in tiefste Trauer abzustürzen. Eine Gänsehaut jagt die andere, während man aus dem Augenwinkel – ich gebe es unumwunden zu – so manche Träne wegwischen muß…Tränen der Verzweiflung aufgrund der intensiven, düsteren Grundstimmung, Freudentränen angesichts solch unfaßbar schöner Musik und Tränen, die einem einzigartigen Gefühl der Demut entstammen – Demut angesichts einer geradezu göttlichen Offenbarung. Letzteres mag pathetisch klingen, aber wer die zehn Songs auf „A Fine Day To Exit“ hört, wird hoffentlich nachvollziehen können, was ich meine.
Den Anfang macht ein vermeintlich unscheinbarer Klavierakkord, um den sich in der Folge der Song „Pressure“ entwickelt. Dabei treten erstmals die neuen, hervorragend ins Gesamtbild passenden RADIOHEAD-Einflüsse auf. Der sich später bestätigende Eindruck, dass ANATHEMA unnötigen Ballast und lästige Stilbegrenzungen über Bord geworfen haben, entsteht erstmals. Soll heißen, dass die Bezeichnung Metal für ihre Musik endgültig unzureichend ist, auch wenn die Band nach wie vor durchscheinen lässt, dass sie eben dort verwurzelt ist. „Restless Oblivion“, „Fragile Dreams“ und „Deep“ waren jedes für sich ein würdiger, nach vorne losgehender Opener, doch sind sie in punkto Emotionalität nicht vergleichbar mit „Pressure“, das gerade in seiner ruhigen Bedächtigkeit zu begeistern weiß.
ANATHEMA sind Meister des langsamen Spannungsaufbaus
„Release“, der nächste Song, beginnt dann gleich mit einer herrlich einfühlsamen Gesangsmelodie über einem stoisch durchgehaltenen Akustikgitarrenrhythmus, bevor ein dezenter Umschwung hin zu elektronischen Klängen erfolgt, um sofort wieder umzuschlagen in eine rockige Richtung. Was ANATHEMA inzwischen mit beängstigender Selbstverständlichkeit beherrschen, ist der langsame Spannungsaufbau, ruhige Klänge steigern sich nach und nach zu monumentalen Soundgebilden, die letztlich wieder sanft ausklingen…meisterhaft!
Pulsierend präsentiert sich „Looking Outside Inside“, bis sich ein akustisches Gewitter zusammengebraut hat und in kräftigem, alle Nervenenden in Alarmbereitschaft versetzendem Gitarrendonner mündet. PINK FLOYD, und von denen die psychedelischeren Alben wie „Obscured By Clouds“, klingen gegen Ende durch, was der Musik etwas Zeitloses verleiht.
Sänger Vincent Cavanaghs Stimme findet direkten Zugang zur eigenen Seele
„Leave No Trace“ – hinter diesem nahegehenden Titel verbirgt sich ein Klagelied an die Vergänglichkeit allen Seins. Ängste werden wachgerüttelt…Was wird bleiben von jedem von uns? Wie lange wird sich wer an mich erinnern, wenn ich nicht mehr bin? Man wird sich seiner sandkornartigen, unbedeutenden Existenz bewusst und findet einzig Trost in der warmen Atmosphäre dieses Songs…
In der Folge unterstreicht „Underworld“, wie unfassbar direkt Vincent Cavanaghs Stimme mittlerweile den Zugang zur eigenen Seele findet, dabei alle Schutzmechanismen beiseite wischend. Gleichzeitig kurz vorm Zerbrechen und doch völlig sicher wirkt sein Gesang.
Beklemmender als in „Barriers“ wurden Depressionen und Isolation noch nicht in Musik umgesetzt. Tonnenschwer lastet die Bedrückung auf einem, nimmt einem wie im Text besungen den Atem und lässt lediglich einen Seufzer der Verzweiflung angesichts so vieler verpasster Möglichkeiten, mit anderen Menschen wirklich zu kommunizieren, der Brust entfleuchen.
„Panic“ ist der ungewöhnlichste Song, den ANATHEMA je geschrieben haben
Eigentlich müsste es leicht sein, „Panic“ als flaches, hartes Alibilied für Freunde der härteren ANATHEMA abzutun. Doch trotz seiner gerade mal drei Minuten und des straighten, schnellen Drummings kristallisiert sich „Panic“ nach und nach als stärkstes Lied heraus, gerade weil die Zutaten hier so scheinbar simpel gehalten sind. Doch wiederum ist es Vincents Stimme, die mit überraschender Zurückhaltung einen extrem reizvollen Kontrast zum Gefühlsausbruch der übrigen Instrumente schafft, wodurch der Track einen wahnhaft-paranoiden Charakter bekommt und einen auch prompt durch den ganzen Tag verfolgt. Der ungewöhnlichste Song, den ANATHEMA je geschrieben haben!
Nach dem großen Ausbruch folgt die Stille in Gestalt des Titeltracks. Akustikgitarre, ein paar unaufdringliche Synthies und Gesang, mehr brauchen die vier Briten nicht, um ihren Zauber zu entfalten. Erneut kommt ihr Händchen für den perfekten Spannungsbogen zum Einsatz, man merkt kaum, dass Zeit vergeht, obwohl „A Fine Day To Exit“ mit knapp sieben Minuten einer der längsten Stücke des Albums ist, alles scheint den Atem anzuhalten und der finalen Entscheidung zu harren: Werden ANATHEMA den Hörer in tiefster Traurigkeit zurücklassen oder ihn zum Abschluss doch noch tröstlich mit seiner eigenen Unvollkommenheit versöhnen?
ANATHEMA gewähren uns mit „A Fine Day To Exit“ Einblick in etwas Perfektes
Die Antwort lautet sowohl als auch. Der Titel sagt es bereits: „Temporary Peace“. Während der Refrain das auf unprätentiöse Art und Weise Rührendste und Beruhigendste ist, was ich je vernehmen durfte, ist der Rest des Liedes wiederum so melancholisch, dass gewiss ist, dass der eingekehrte Friede immer nur ein trügerischer sein kann. ANATHEMA entlassen einen in die Realität mit langsam verklingenden Wellengeräuschen, woraufhin man so schnell wie möglich an die Gestade dieser so tiefgehenden Musik zurückkehren will. Und sie haben ein Einsehen: Nach einer wegen des schlichtweg unverständlichen Dialekts etwas seltsamen Hörspieleinlage folgt ein Hidden Track, der noch einmal die Parallelen zu PINK FLOYDs psychedelischen Zeiten verstärkt.
Geradezu magisch wirken die zehn Lieder, wie nicht von Menschenhand gemacht. Ich bin mir sicher, würde man einfach nur die Noten zu Papier bringen und von anderen Musikern nachspielen lassen, es wäre nicht annähernd dasselbe! ANATHEMA sind nicht von dieser Welt, doch gewähren sie uns diesen Einblick in etwas Perfektes, Makelloses. Da die Schilderung meiner Empfindungen bezüglich „A Fine Day To Exit“ jedoch alles andere als allumfassend und perfekt ist – sein kann – will ich nur jene, die sich daraufhin das Album anhören, bitten, ihre ganz eigenen Eindrücke von diesem Album zu sammeln, es selbst zu entdecken und nicht zu exakt meine Eindrücke nachvollziehen zu wollen und sich damit selbst zu limitieren.
Bleibt die Frage, was nun die Folgen davon sind, dass ANATHEMA mit „A Fine Day To Exit“ vollständige Perfektion erreicht haben. Vermutlich nur – typisch unvollkommener Mensch – dass man von ANATHEMA unbedingt noch mehr will, weitere perfekte Alben, mehr derartig vollendete Musik…
Spielzeit: 62:32 Min.
Line-Up:
Vincent Cavanagh – Gesang, Gitarre
Danny Cavanagh – Gitarre, Gesang
Les Smith – Keyboards
John Douglas – Schlagzeug
Produziert von Nick Griffith
Label: Music For Nations
ANATHEMA „A Fine Day To Exit“ Tracklist
- Pressure
- Release
- Looking Outside Inside
- Leave No Trace
- Underworld
- Barriers
- Panic
- A Fine Day To Exit
- Temporary Peace