STRATOVARIUS: Wir dachten, er wäre ein Arschloch.

Das selbstbetiteltes Album mit stampfendem Midtempo-Groove statt Speedgeballer und der überaschender Hang zur Simplizität verunsichern die Fans. METALLICA!? Nein, STRATOVARIUS! Bereits am 6.6.2005 berichtete Jens Johansson über die Ereignisse des letzten Jahres und die Entstehung des aktuellen Albums, welche beide unmittelbar zusammenhängen.

Das selbstbetitelte Album mit stampfendem Midtempo-Groove statt Speedgeballer und der überaschende Hang zur Simplizität verunsichern die Fans. METALLICA!? Nein, STRATOVARIUS! Bereits am 6.6.2005 berichtete Jens Johansson über die Ereignisse des letzten Jahres und die Entstehung des aktuellen Albums, welche beide unmittelbar zusammenhängen.

Wie gefällt dir das Album?

Wie schon bei den vorhergehenden Alben gibt es ein paar richtig gute Stücke und ein paar, die ich nicht so mag.

Das ist immer so. Nicht jeder mag alles. Mir gefällt es aber, vielleicht aus ganz anderen Gründen im Vergleich zu anderen Leuten. Ich denke, es war sehr wichtig das Album zu machen. Es hat jedenfalls eine sehr lange Entstehungsgeschichte. Ich bin glücklich jetzt hier zu sein! Ich finde, es unterscheidet sich sehr von den anderen Alben wie Elements.

STRATOVARIUS:
Mastermind Timo Tolkki schrieb den Großteil des neuen Materials innerhalb kürzester Zeit während einer manischen Episode.

Ich war überrascht. Vor zehn Jahren wurde ich wegen der Speed Metal-Songs überhaupt erst zum STRATOVARIUS-Fan und nun finde ich keinen einzigen auf der Platte…

Es gibt auch keinen! Es gibt auch keine Doublebassdrums. Es ist schockierend!

War das eine bewusste Entscheidung oder hat es sich einfach beim Songwriting ergeben?

Das ist schwer zu sagen. Timo, unser Gitarrist, schrieb alle Songs auf dem Album. Ich weiß nicht, ob du mitbekommen hast, was letztes Jahr los war. Er ist tatsächlich manisch-depressiv. Und mitten in einer manischen Episode im Februar oder März letzten Jahres schrieb er alles. Er hat dafür eine Woche gebraucht. Aber ich weiß nicht, was er sich gedacht hat oder ob er überhaupt gedacht hat. Ich bin mir sicher, dass er sehr chaotisch war, sehr unbequem. Er schrieb ins Internet, dass er das Album Popkiller nennen wird. Ich weiß nicht, was er sich dabei dachte. Ich vermute, er hat dabei wenig nachgedacht. Er befand sich in einem Dopaminrausch. Er war sprichwörtlich verrückt. Für viele Leute ist verrückt ein negatives Wort. Sie nennen es eine manisch-depressive Erkrankung. Eigentlich lautet die Bezeichnung bipolare Störung. Es ist eine Diagnose und man sieht es als Problem an. Im medizinischen Kontext ist es kein normales Hirn. Ein normales Hirn macht nicht diese Stimmungsschwankungen durch. Aber viele Künstler haben sie. Es ist eine ungewöhnliche Perspektive, nicht medizinisch, aber man kann es auch als Gabe betrachten. Hätte er dieses Problem nicht, das er wohl schon sein ganzes Leben lang hat – schon wieder bezeichne ich es als Problem! Hätte er diese Gabe oder dieses Problem nicht, hätte er die ganzen Alben vermutlich nicht geschrieben. Dann hättest du vor zehn Jahren die Musik nicht gehört. All das Zeug, was er gemacht hat, schuf er unter dem Einfluss dieses Dopamins oder was auch immer im Gehirn. Sechs, sieben Monate lang ist man vollkommen kreativ und impulsiv. Unglücklicherweise begann die letzte dieser Episoden 2003, als wir gerade den Vertrag mit Sanctuary unterschrieben hatten. Es war so viel Geld im Spiel, es war, als würde man ein Kind in ein Süßwarengeschäft setzen. Er drehte völlig durch. Er feuerte die halbe Band, holte diese Sängerin an Bord, schrieb diese tollen Songs, investierte in ein Studio und hatte riesengroße Pläne. Als er schließlich auf den Boden der Tatsachen zurückkehrte, erkannte er natürlich: Was zur Hölle habe ich getan? Ich habe diese Band zwanzig Jahre lang aufgebaut. Und nun habe ich sie ruiniert und stecke in Schulden. Das Studio funktioniert nicht. Ich habe keine Band. Ich habe meine Freunde in der Band tief verletzt. Denn er hatte der finnischen Presse diese Interviews gegeben, in denen er ziemlich schlimme Sachen über Kotipelto erzählte. Kotipelto war deswegen äußerst wütend auf ihn. Nach diesem April, nachdem er einen Zusammenbruch hatte, wurde er so manisch, das er psychotisch wurde. Er konnte sich kaum bewegen. Seine Frau war eine Woche zuvor ausgezogen, weil sie es nicht mehr ausgehalten hatte. Er rief sie an, damit sie ihn ins Krankenhaus fährt. An dieser Stelle beginnt die Geschichte. Denn vor diesem Ereignis hatte niemand in der Band – ihn selbst eingeschlossen – gewusst, dass er eine manisch-depressive Störung hat. Niemand hatte es gewusst. Wir dachten eben, er wäre ein Arschloch! Bevor einem klar wird, dass jemand geisteskrank ist, macht man ihn für seine Handlungen zu 100 Prozent verantwortlich. Wir sind jetzt natürlich zu der Erkenntnis gelangt, dass wir ihn nicht immer zu 100 Prozent verantwortlich machen können. Natürlich können wir ihn auch nicht zu 0 Prozent verantwortlich machen. Aber wir nehmen nicht mehr immer alles ernst. Erst im Dezember waren wir soweit, dass jeder in der Band einverstanden war, überhaupt damit anzufangen, uns Gedanken über ein neues Album zu machen. Als wir diese Erkenntnis schließlich erlangt hatten, war es sehr einfach, das Album aufzunehmen. Bis Dezember war es sehr hart, weil Tolkki sich in einem depressiven Zustand befand. Er kam kaum aus dem Bett raus. Es war äußerst kompliziert. Er hatte wie gesagt sein Privatleben ruiniert und auch seine Geschäftsfirma, seine Familie und natürlich seine Band. Alles hatte er innerhalb von sechs Monaten zerstört. Es dauerte jetzt sechs Monate – ich will nicht sagen, um alles zu reparieren -, um ihn zu unterstützen, als es ihm wieder besser ging. Das Gehirn braucht eine lange Zeit um wieder auf die Beine zu kommen nach so einem Schock. Manche Leuten erholen sich nie. Er hat alles durchgemacht. Er ging zum Arzt, der ihm ein Medikament verschrieb. Er probierte es und fühlte sich furchtbar. Dann probierte er ein anderes, ging zu einem anderen Arzt. Die üblichen Sachen, die man bei so was durchmacht. Im November fand er schließlich einen Arzt, zu dem er eine gute Beziehung aufbaute, und ein Medikament, das half. Es heißt Buspiron, ein Antidepressivum. Es brauchte ein paar Wochen. Vielleicht heilte sein Gehirn auch von selbst. Nach ein paar Wochen klang er jedenfalls wieder etwas normaler. Er nahm häufiger ab, wenn man versuchte ihn anzurufen. Es war eine lange Zeit des Wartens für die Band. Alles lag auf Eis. Jetzt machen wir nichts mehr, bevor nicht jeder damit einverstanden ist.

Ihr habt dann also die alten Lieder genommen, die er geschrieben hatte?

Wir nahmen hauptsächlich das Schlagzeug. Er hat die Songs noch etwas verändert. Das Schlagzeug wurde im April aufgenommen. Die Aufnahmen fingen an dem Tag an, als er ins Krankenhaus kam, was absolut bizarr ist. Er hatte diese Popkiller-Songs etwa einen Monat zuvor geschrieben. Nachdem er Jörg und Timo gefeuert hatte, suchte er einen neuen Sänger und einen neuen Schlagzeuger. Er hatte eine Sängerin, mein Bruder war eine Woche lang in der Band: Es war das reine Chaos. Er hatte diese Ideen und stellte sie spontan auf die Webseite. Es stand schlecht um die Band, aber vielleicht noch schlimmer um sein Privatleben. Jörg und ich waren möglicherweise die ersten, die erkannten, dass wir ihm helfen mussten. Es war ein hartes Jahr.

STRATOVARIUS:
Sänger Timo Kotipelto war lange Zeit alles andere gut auf Timo Tolkki zu sprechen.

Und nun geht es wieder aufwärts!?

Wir haben das Album gemacht und Tolkki lebt. Ich schätze, das ist die größte Leistung. Das Album ist in dieser Hinsicht ein Nebenprodukt. Wenn du in diesem Bereich studierst, weißt du, dass bipolare Patienten sich während depressiver Episoden oftmals umbringen. In dieser Situation wäre es noch wahrscheinlicher gewesen, es gab nicht nur die biochemische Depression sondern auch noch viele externe Faktoren, so viele Probleme. Ich habe mich schwer getan mit manchen von den Sachen. Man kann sich ausmalen, wie schlimm es für jemanden ist, der 30 Stunden am Tag schläft und nicht die Kraft hat aufzustehen. Es muss sehr, sehr schlimm gewesen sein, sehr schmerzhaft. Als er im Dezember sozusagen aufwachte, packte er die ganzen Sachen in die Songs. Sie drehen sich im Grunde um die ganze Scheiße, die er durchgemacht hat, und die wir zum Teil alle durchgemacht haben. Es ist schwierig sich darüber klar zu werden, dass man jemanden nicht verantwortlich machen kann für das, was er getan hat. In den vergangenen zehn Jahren haben wir ihn als Bandleader betrachtet. Wir dachten alle, er müsste wissen, was er tut. Denn bis dahin hatte alles funktioniert. Die Band wurde immer größer. Wir haben ihm vollkommen vertraut. Das tun wir immer noch. Man kann nicht einfach jemanden wegwerfen mit einem großen Stempel geisteskrank auf der Stirn, behaupten er wäre jetzt völlig wertlos. Er ist immer noch die selbe Person, die wir so schätzen. Wir werden ihn auch in Zukunft schätzen. Nur wenn er mit wirklich seltsamen Ideen ankommt, besonders in finanziellen Angelegenheiten, müssen wir etwas auf ihn aufpassen, damit er sich und uns und der Band nicht schaden kann. Wir müssen manche Entscheidungen genauer überdenken. Aber musikalisch hat er das Steuer noch immer in der Hand. Da überlassen wir ihm die Entscheidungen, denn er ist einfach ein Genie! Man kann es nicht anders ausdrücken. All die Lieder, die er die Jahre über geschrieben hat, werden von so vielen Leuten geliebt. Er hätte das nicht gekonnt ohne diese Gabe oder dieses Problem oder wie man es auch nennen mag. Wir haben jedenfalls viel über uns und über ihn erfahren, und er hat auch viel über sich selbst herausgefunden. Am Ende ist es noch einmal gut gegangen. Eins der größten Probleme war, dass Kotipelto Tolkki wirklich gehasst hat, wegen dem, was er gesagt hatte. Es dauerte sehr lang, bis die beiden überhaupt wieder miteinander redeten. Und selbst nachdem sie lange miteinander geredet hatten – vier Stunden oder so, wahrscheinlich mehr als in den ganzen zehn Jahren zuvor; Timo Tolkki entschuldigte sich für alles, was er gesagt und getan hatte -, selbst da wollte Timo Kotipelto nur mitmachen, wenn ihm die Musik gefällt. Es gab keine Demos. Selbst ich wusste nicht, wie die Sachen klingen würden. Aber Tolkki war fit genug, um ein paar Demos aufzunehmen für Kotipelto zum Anhören. Und Kotipelto mochte das Material, fuhr richtig darauf ab! Er hatte genau nach etwas Derartigem gesucht. Er wollte eine Veränderung gegenüber dem Stil von Elements 1 und Elements 2.

Er singt ja auch tiefer.

Genau. Kotipelto gefiel der hohe Gesang nie sonderlich. Wenn du Kotipeltos Soloalben anhörst, klingen sie eher wie dieses Album: mehr Midtempo-Songs und nicht dieser ultrahohe opernhafte Stil, und natürlich keine Orchesterteile. Mir gefällt es ebenfalls. Ich finde, wir haben dieses orchestrale Powermetal-Zeug so weit getrieben wie möglich. Hätten wir Elements 3 gemacht, hätte es wahrscheinlich zwei Millionen Euro gekostet mit einem 500-köpfigen Orchester und Songs mit 250 Schlägen pro Minute. Ich habe keine Ahnung, wie wir das hätten anstellen sollen. Es gab kein Ziel mehr. Wir haben mit Elements 1 und Elements 2 zwei so extreme Power Metal-Alben gemacht, wie man sie sich nur vorstellen kann, sehr kompliziert, sehr viel Orchestersachen, epische Stücke, sehr schnelle Stücke. Ich glaube, das hätten wir nicht toppen können. Das ist jetzt ein angenehmes Gefühl.

Hörst du dir privat STRATOVARIUS-Alben an?

Nicht so oft. Ich bin auch kein typischer Metal-Fan. Tatsächlich mag ich aber die Elements 1 und die Elements 2, weil sie so abwechslungsreich sind. Ich weiß, dass Kotipelto sie nicht so sehr mochte. Außerdem ist es sehr schwierig sie live umzusetzen mit Orchesterspuren vom Band. Es ist furchtbar. Die neuen Songs werden live wesentlich einfacher sein. Man kann sie einfach spielen und sie rocken. Mit Elements 1 und Elements 2 hatten wir uns meiner Meinung nach in eine Ecke bugsiert. Wobei ich mit beiden Stilen zufrieden bin. Für Kotipelto war es dagegen der entscheidende Punkt. Hätte Tokki gemeint: Das ist das neue Album! und wäre es Elements 3 gewesen mit viel Orchester, schnellen Songs, hohem Gesang, dann hätte er nicht mitgemacht und es würde dieses Album nicht geben. Es ist eher ein Bandalbum, jeder mag das Material. Es ist mehr Rock, einfacher live zu spielen. Elements 1 und Elements 2 tendierten damals wohl eher in Tolkkis und meine Richtung, besonders meine. Ich mag solche wirren Sachen. Ich höre auch Stravinsky in meiner Freizeit. Das ist verdammt cool. Aber ein normaler Metaller findet es vielleicht zu heavy, diese sehr langen Stücke mit Akkordeoneinschüben und einem 500-köpfigen Chor.

STRATOVARIUS:
Jens Johansson spielt live gerne die Gitarrenriffs mit. Macht auch Spaß!

Fällt es dir leicht mit dem Keyboard auszusetzen, wenn die Gitarre gerade ein fettes Riff spielt?

Ich spiele in solchen Fällen meistens das Riff auf dem Keyboard mit. Im Studio werden meistens drei Gitarrenspuren aufgenommen, um einen fetteren Sound zu bekommen. Live geht das natürlich nicht. Deshalb spiele ich gewöhnlich etwas Ähnliches wie die Gitarre. Macht auch Spaß! Live wird sowieso immer anders sein als im Studio.

Wie wählt ihr die Songs für eure Konzerte aus?

Das wird diesmal interessant. Wir werden Tolkkis Urteil vertrauen. In der Vergangenheit hat er uns einfach immer die Setlist gegeben. Vielleicht bringen nun auch andere Leute ihre Meinung ein. Ich schätze mal, es wird ein paar alte Songs und ein paar neue Songs geben, einige Songs vom aktuellen Album – wie es eben so üblich ist.

Benutzt du einen Gehörschutz?

Ja, schon seit langem. Wenn der Bühnensound schlecht ist, nehme ich ihn manchmal raus. Aber generell sehe ich zu, dass ich welchen benutze.

Wie unterscheidet ihr in der Band eigentlich zwischen Timo Tolkki und Timo Kotipelto? Ihr könnt sie ja nicht einfach immer Timo rufen.

Genau. Manchmal sagen wir TK und TT. Oder wie im finnischen Militär einfach den jeweiligen Nachnamen. Wenn sie finnisch reden, verwenden sie unterschiedliche Rufnamen. Timo Tolkki ist dann Timgpa und Timo Kotipelto ist einfach Timo. Aber wir Englisch Sprechenden sagen das nicht, erst recht nicht bei Interviews.

Wie erklärst du dir, dass so wenige Frauen Heavy Metal machen?

Ich weiß nicht. Aber es scheint besser zu werden. Es gibt ein paar Bands wie NIGHTWISH, WITHIN TEMPTATION, EPICA

Die bestehen aber aus einer Frau und vier oder fünf Männern.

Immerhin ein Anfang! Es gibt noch LORDI mit einer Keyboarderin. Vielleicht ist es so wie vor 15 Jahren mit finnischen Bands. Damals gab es keine Finnen, die Metal gespielt haben. Ich schätze, AMORPHIS und STRATOVARIUS schafften als erste den Durchbruch in der Metal-Szene. Dadurch haben andere finnische Bands gesehen, das es möglich ist und ebenfalls durchgestartet. Vielleicht läuft es mit weiblichen Bands ebenso und wir haben in fünf Jahren einige Bands mit überwiegend weiblichen Mitgliedern. Wir werden sehen.

Fotos: doomster@vampster.com

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