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ISIS: Oceanic

Nomen est omen – ein vertonter Ozean.

Wie eine Sturmflut brach seinerzeit Oceanic über mich herein, traf mich völlig unerwartet, mitten ins Mark. War ich der einzige, dem es so ging? Sicherlich nicht. Doch von vorne. Oceanic, das zweite Album von ISIS, ist ganz anders als alles bis dato Gehörte. Die Referenzen zu NEUROSIS sind zwar nicht zu verleugnen, aber es war für geschulte Ohren schon immer klar, dass hier etwas Anderes am anrollen war, etwas nicht weniger Gigantisches, etwas dass die Seele und das Herz des Hörers ebenso berührt, wenn auch auf ganz andere Art und Weise.

Wenn ich mich an meine erste Begegnung mit ISIS erinnere, fällt mir nur das zufällig besuchte Konzert ein – schon wieder eine gute Zeitlang ist dies her. Da standen sie auf der Bühne, spielten ihre Show, ich mit geschlossenen Augen die ganze Stunde vor der Bühne. Als ich auf der Heimfahrt die frisch erworbene Oceanic hörte, hätte ich gleich zu The Beginning and the End am liebsten gehalten und vor Freude geweint. Nach wie vor ist dies einer meiner absoluten Lieblingssongs der Band, nach einem mächtigen Tritt in die Magengrube, nach einem monolithischen Gewaltausbruch werden sie episch bis lethargisch, immer dynamisch, ein Wechselbad der Gefühle, alles par excellence. Gerechterweise muss man anmerken, dass ohne die Beteiligung von 27 diesem Lied einiges fehlen würde. Es beinhaltet ein ganzes Universum in sich, hält genau das, was der Titel verspricht.

Nach den ersten acht Minuten kommen mit The Other und False Light die beiden Songs, die man als typisch Oceanic bezeichnen könnte. Die massiven Riffs, das heisere, aggressive Schreien von Aaron Turner, die immer wieder einkehrende Ruhe, in der man sich in der Musik verliert, in der man selbst sein kann. Ist es nun schön oder grenzenlos traurig, was ISIS machen? Ich persönlich empfinde die Musik auf Oceanic wie auch auf den nachfolgenden Scheiben zwar sehr ernsthaft aber positiv, weil reinigend, tief und verspielt. Wer solche Arrangements in den Songs hat, der kann nicht vom Leben Abschied nehmen, niemals. Wer solche Musik macht, der empfindet Liebe, der empfindet Hass, der macht aus diesem Mix ein positives Ganzes.

Siehe Carry. Der zweitruhigste Song des Albums baut sich erst langsam auf, lässt ob seines Minimalismus den Hörer seinen Atem anhalten. So leise und doch so kraftvoll – jetzt bloß kein Wort sprechen, sonst würde ein weiteres, wunderbares Detail untergehen. Der Ausbruch ab der Mitte des Stücks, er sitzt so tief, wie kein Anderer. Das Thema Meer und Wasser, es ist auf diesem Album omnipräsent. Das Rauschen und Plätschern wird von den leidenschaftlich gespielten Gitarren wiedergegeben, die metallischen, noisigen Ausbrüche, sie sind wie Sturmfluten, in denen das imaginäre Boot des Hörers fast kentert, aber immer wieder gerettet werden kann. Sonst könnte man dieses Album niemals durchhören. Und wenn man hört, wie sich in Weight der brodelnde Sturm langsam aufbaut und wie man fasziniert wie glücklich der Gefahr entgegenschippert, das lässt einen fühlen, das ist spannend und wunderbar. Ja, deswegen ist Oceanic ein durchgehend positives Album.

ISIS haben meine Liebe zur Musik mit dieser CD vertieft und auf eine andere Ebene gehievt. Ja, es gibt sie noch, die Bands, deren Liebe zur Musik grenzenlos ist, die ihre Instrumente nicht in die Hand nehmen, um anzugeben oder leichte Mädchen abzuschleppen. So funktioniert das nicht. Hier sind leidenschaftliche Musiker am Werk, die ihre Kunst erschaffen, weil sie es müssen, weil es ihre Bestimmung ist. Die Leidenschaft, die auf Oceanic gepresst wurde, ist so groß wie der Mount Everest, glaubt nicht, dass euch das abschließende Hym kalt lässt. Einen derart emotionalen Schluss, bei dem man auf dem Boden liegt und fleht, die Musik möchte nie zu Ende gehen, gibt es auf CD gepresst alle Jubeljahre mal. Wer da nicht fliegt, ist innerlich tot.

Textlich, optisch und klanglich ist diese Scheibe ebenso originell wie musikalisch. Das schwer durchschaubare Konzept von Aaron Turner, das eine zynische Tragödie zwischen Hoffnungslosigkeit, Vertrauensbruch und Inzest behandelt, geht nur schwer konform mit den schönen Bildern von Gewässern und doch bleibt ein Ganzes bestehen. Die Produktion von Matt Bayles ist rau, ungemütlich und ursprünglich wie schon auf dem genialen Debütalbum Celestial, doch ein Schritt in Richtung Differenziertheit ist gegeben. Oceanic ist ein Werk, das wie wenige andere ein Ganzes darstellt und die ganze Aufmerksamkeit des Hörers fordert.

Kompositorisch und handwerklich mögen Panopticon und In the Absence of Truth besser sein, der Aha-Effekt bleibt mit diesem Album verbunden. Ebenso wie viele persönliche Erinnerungen, egal ob bitter und tragisch oder leuchtend und wärmend. Oceanic bietet in nur einer Stunde so viel und zeigt eine Noisecore-Band, die sich ihrer Wurzeln enthebt und ihren einstigen Vorbildern mächtig Konkurrenz macht. Einfach eine der fünf Scheiben, die mit auf die einsame Insel müssen.

Veröffentlichungstermin: 16. September 2002

Spielzeit: 63:18 Min.

Line-Up:
Aaron Turner – Vocals, Guitar
Michael Gallagher – Guitar
Jeff Caxide – Bass
Aaron Harris – Drums
Bryant Clifford Meyer – Synthies

Produziert von ISIS und Matt Bayles
Label: Ipecac Recordings

Homepage: http://www.isistheband.com

Tracklist:
1. The Beginning and the End
2. The Other
3. False Light
4. Carry
5. –
6. Maritime
7. Weight
8. From Sinking
9. Hym

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